Beispiel Massenmehrung
Nachtragsprüfung
"Das war doch nur eine "Massenmehrung"
Dieses Wort "Massenmehrung" ist das häufigste verwendete Unwort zur Rechtfertigung im Nachtragsmanagement und ein großer Mythos bei der Verneinung von Vertragsänderungen (Baunachtrag) oder der Begründung von Kostensteigerungen. Es ist auch häufig der Ausgangspunkt für Korruption in der öffentlichen Verwaltung.
Schnell mal da auf der Baustelle ein paar m3 mehr genehmigt oder dort paar Stundenlöhne unterschrieben, alles kein Problem, sind doch nur Massenmehrungen und keine genehmigungsbedürftigen Baunachträge.
So kommen, ausgehend von unserer jahrelangen Prüfertätigkeit in der öffentlichen Verwaltung, schnell mal 2000 Std zusammen oder zig m3 Mauerwerk, Beton oder Erdaushub dazu.
Mehrkosten von nicht selten mehr als 50.000 € bei der Baumaßnahme, vorwiegend Stundenlöhne, werden mit "Massenmehrungen" begründet. Siehe dazu auch unsere Studie zu Baukostenabrechnungen bei Baumaßnahmen in einer kreisfreien Stadt in RLP.
Wie ist nun der Begriff "Massenmehrung" zu definieren?
Gibt es diesen Begriff im Rechtssinn überhaupt?
Ist dieser Begriff vielleicht nur ein Wort aus dem alltäglichen Sprachgebrauch von Architekten/Ingenieure?
1) Als rechtliche Anspruchsgrundlage für ein Zahlungsverlangen nach dem Werkvertragsrecht des BGB kann der Begriff ohne Vertragsänderung nicht verwendet werden.
2) Der Begriff "Massenmehrung/Massenminderung" taucht in § 2 Abs. 3 VOB/B (als AGB, nicht gegenüber Verbrauchern) auf und wurde auch durch den BGH entsprechend eingeschränkt.
Diese Vergütungsregelung zielt darauf ab, den Vergütungsanspruch des Auftragnehmers den Unwägbarkeiten zu entziehen, die sich aus der unzutreffenden Einschätzung der für die Ausführung der Bauleistung erforderlichen Mengen im Zeitpunkt des Vertragsschlusses ergeben.
§ 2 Nr. 3 VOB/B ist deshalb nur auf die Fälle anwendbar, in denen sich das Risiko einer Fehleinschätzung verwirklicht, weil im Hinblick auf die Mengen andere Verhältnisse vorgefunden wurden als sie im Vordersatz Eingang gefunden haben. Dementsprechend ist § 2 Nr. 3 VOB/B nicht anwendbar, wenn sich die Leistung durch Anordnungen des Auftraggebers ändert oder dieser einen Teil der Leistung kündigt (BGH VII ZR 19/11).
In der täglichen Baustellenpraxis bedeutet dies, der Auftraggeber hat den vertraglich geschuldeten Werkerfolg nicht geändert sondern der Erfüllungsgehilfe des Auftraggebers hat sich bei der Mengenermittlung in einem Leistungsverzeichnis verrechnet. Wenn dies so ist, kann der angebotene Preis über die Regelung des § 2 Abs. 3 VOB/B angepasst werden. Allerdings hat der BGH in einer neuen Rechsprechung zur Preisermittlung Leitregeln aufgestellt.
Leitsatz BGH VII ZR 34/18
a) Wie die Vergütungsanpassung bei Mengenmehrungen vorzunehmen ist, wenn eine Einigung über den neuen Einheitspreis nicht zustande kommt, ist in § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B nicht geregelt. Die Bestimmung gibt nur vor, dass bei der von den Parteien zu treffenden Vereinbarung über den neuen Preis Mehr- oder Minderkosten zu berücksichtigen sind. Die VOB/B legt die Verantwortung für die neue Preisbestimmung, durch die etwaigen Störungen des Äquivalenzverhältnisses entgegengewirkt werden soll, damit in die Hände der Vertragsparteien, die unter Berücksichtigung der geänderten Umstände einen neuen Preis aushandeln sollen.
b) Abgesehen von der in § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B vorgesehenen Einigung auf einen neuen Einheitspreis können die Vertragsparteien sowohl bei Vertragsschluss für den ungewissen Fall, dass Mengenmehrungen im Sinne dieser Bestimmung eintreten, als auch nachträglich, sobald aufgrund konkret eingetretener Mehrmengen ein neuer Einheitspreis verlangt wird, sich über einzelne Teilelemente der Preisbildung verständigen. Sie können etwa einen bestimmten Maßstab beziehungsweise einzelne Kriterien oder Faktoren festlegen, nach denen im konkreten Fall der neue Einheitspreis nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B bestimmt werden soll.
c) Haben sich die Parteien nicht insgesamt oder im Hinblick auf einzelne Elemente der Preisbildung geeinigt, enthält der Vertrag eine Lücke, die im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zu schließen ist. Dabei entspricht es der Redlichkeit und dem bestmöglichen Ausgleich der wechselseitigen Interessen, dass durch die unvorhergesehene Veränderung der auszuführenden Leistungen im von § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B bestimmten Umfang keine der Vertragsparteien eine Besser- oder Schlechterstellung erfahren soll.
d) Die im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Interessen der Parteien nach Treu und Glauben ergibt, dass - wenn nichts anderes vereinbart ist - für die Bemessung des neuen Einheitspreises bei Mehrmengen im Sinne von § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B die tatsächlich erforderlichen Kosten zuzüglich angemessener Zuschläge maßgeblich sind.
Gleichzeitig wäre aber das Leistungsstörungsrecht gegen den ausschreibenden Architekten wegen Pflichtverletzung zu prüfen und anzuwenden, denn der Architekt schuldet eine zutreffende Mengenermittlung. (Beispiele)
Beispiel
Es sollen 10 Klassenräume mit Linoleumbelägen neu verlegt werden. Die Mengenermittlung ergab eine Fläche von 450 m2. Die Prüfung hat ergeben, dass sich der Mitarbeiter beim Ausmessen der Räume vermessen hat. Die 10 Klassenräume hatten in Wirklichkeit 750 m2. Da der Werkerfolg laut Vertrag (10 Klassenräume mit Linoleum) gleich geblieben ist, liegt der Fall von § 2 Abs. 3 VOB/B vor. Der Einheitspreis ist auf Verlangen des Auftraggebers unter Berücksichtigung von Mehr- und Minderleistungen im Einzelfall anzupassen. Die Bauzeit hat sich durch die Mehrmengen nicht verändert.
Abwandlung:
Es sollen 10 Klassenräume mit Linoleumbelägen neu verlegt werden. Die Mengenermittlung und Abrechnung ergab eine Fläche von 450 m2.
Die Baufirma wird gerade fertig, da kommt ein städtischer Mitarbeiter mit dem Rektor der Schule. Es ist noch Geld bei der Bauunterhaltung übrig und der städtische Mitarbeiten ordnet an, dass weitere 300 m2 Linoleumbeläge in anderen Klassenräumen verlegt werden soll. Insgesamt sind es jetzt 750 m2. Diese Mengen sollen jetzt als Massenmehrungen in den entsprechenden Positionen des Leistungsverzeichnisses abgerechnet und dabei soll § 2 Abs. 3 VOB/B beachtet werden. Nach Ansicht des städtischen Mitarbeiters ist eine Vertragsänderung nicht erforderlich, schließlich handelt es sich um eine Massenmehrung.
Diese Ansicht ist gleich unter mehreren Gesichtspunkten rechtswidrig und keine Firma sollte sich darauf einlassen.
a) Der vertraglich geschuldete Werkerfolg waren 10 Klassenräume mit 450 m2.
b) Weitere Klassenräume mit 300 m2 stellen einen geänderten Werkerfolg dar und zwar durch eine Anordnung (Vollmacht städtischer Mitarbeiter?) nach § 1 Abs. 3+4 VOB/B.
c) Die Rechtsfolge einer Anordnung ist die Vergütung nach § 2 Abs. 5 VOB/B und eben nicht § 2 Abs. 3 VOB/B (Massenmehrung)
d) Der neue Preis ist auf Basis des Hauptangebotes unter Berücksichtigung von Mehr- und Minderkosten zu ermitteln. Zum Beispiel muss sich nicht wegen der Mengenerhöhung um 300 m2 vielleicht ein höherer Rabatt beim Lieferanten des Linoleums ergeben. Das Gegenteil kann auch der Fall sein. Mehrkosten können entstehen, wenn der Lieferant einen besonderen Rabatt nur für die 450 m2 (Zeitpunkt, Sonderangebote, Ausverkauf usw.) gegeben hat, welcher für die weiteren 300 m2 nicht mehr gilt (z.B. Preiserhöhungen zum Jahresanfang usw.). Weitere Steigerungen können sich z.B. durch Tariferhöhungen bei den Lohnkosten ergeben.
Zur Abrechnung hat der BGH ausgeführt:
„Die Ermittlung der Vergütung für eine geänderte Leistung erfolgt in der Weise, dass - soweit wie möglich - an die Kostenelemente der Auftragskalkulation angeknüpft wird. Abzustellen ist dabei grundsätzlich auf die Auftragskalkulation der geänderten Position. Für den neu zu bildenden Einheitspreis sind grundsätzlich die gleichen Kostenansätze zu wählen wie in der vom Auftragnehmer dem Vertrag zugrunde gelegten Kalkulation“.
Grundsätzlich liegt ein Fall der Vertragsänderung vor.
Die Vertragsänderung hat nach § 49 GemO RLP schriftlich und nicht durch einen einfachen städtischen Mitarbeiter zu erfolgen. Der Erfüllungsgehilfe ist in den meisten Fällen der öffentlichen Verwaltung ein vollmachtsloser Vertreter. (dazu auch)
Fazit:
Wie der BGH in seinen Entscheidungen ausgeführt hat, treffen die rechtlichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 VOB/B in den wenigsten Fällen zu.
Aus diesem Grund sollte man sich von dem volkstümlichen Begriff "Massenmehrung" verabschieden.
Grundsätzlich ist die Frage zu beantworten, warum werden die Mengen in den Positionen eines Leistungsverzeichnisses überschritten?
Hat der externe Erfüllungsgehilfe sich bei gleichbleibendem Werkerfolg nur verrechnet, greift § 2 Abs. 3 VOB/B. Der Erfüllungsgehilfe ist für seine mangelhafte Mengenermittlung nach dem Leistungsstörungsrecht des BGB zur Verantwortung zu ziehen.
Erhöhen sich die Mengen auf Grund einer Anordnung nach § 1 Abs. 3+4 VOB/B, so kommt § 2 Abs. 5 VOB/B zur Anwendung. Der Preis kann, muss aber nicht, in Anlehnung von § 2 Abs. 3 VOB/B erfolgen soweit beide Vertragspartner damit einverstanden sind. Eine entsprechende schriftliche Nachtragsvereinbarung als Vertragsänderung ist zu schließen.
In unseren praxisnahen Schulungen vertiefen wir das Thema auf Grundlage vieler Beispiele aus unserer Studie bei Prüfungen in einer öffentlichen Verwaltung noch.
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(Anmerkung: Der Beitrag ist die persönliche Ansicht des Verfassers und stellt keine bautechnische oder baurechtliche Beratung im Einzelfall dar)